
Dissoziation und
Dissoziative Identitätsstörung
Nicht nur für Menschen, die mit dissoziativen Klient:innen arbeiten, sondern auch für die Betroffenen selbst ist der Zustand der Dissoziation schwer beschreib- und erklärbar.
Es macht also Sinn, sich genauer damit zu befassen, um Licht ins Dunkel der Dissoziation zu bringen.
Das Wesen der Dissoziation
Dissoziation sei "eines der seltsamen Dinge am Trauma", schreibt Steve Haines (2022) in seiner Graphic Novel "Trauma ist ziemlich strange".
So schwer erfassbar wie Dissoziation ist, so verständlich ist eigentlich ihre Entstehung.
Sind Menschen einer Situation ausgesetzt, die gleichzeitig so bedrohlich aber ebenso wenig auflösbar erscheint, setzt ein körperlicher und seelischer Abschaltmoment ein.
Als praktisch letzter Ausweg, trennt sich das Bewusstsein von allem außen- und innenliegenden; Psyche und Körper werden immobil. Dieser Zustand der peritraumatischen Situation beschreibt letztendlich eine Extremform des Dissoziieren.
Dissoziation begegnet uns jedoch auch im Alltag, manchmal als gelernter Mechanismus zur Stressabwehr und damit zeitweise auch als nützlicher Helfer.
In Situationen, in denen wir unsere kognitiven Ressourcen besonders beanspruchen, kann Dissoziieren helfen, vermeintlich unnütze Informationen des außen abzuschirmen (Mattheß & Schüepp in Sack, Sachsse & Schellong, 2013). Insbesondere Kinder, die vertieft in das eigene Spielen sind, können sich erst durch mehrmalige, direkte Ansprache von ihrem Fokus lösen und auf die Umwelt reagieren.
"Wir schützen uns vor dem Leben, indem wir uns von unseren inneren und äußeren Welten abkoppeln"
(Haines, 2022, S.3)
Traumatische Dissoziation
Dissoziation infolge eines Traumas ist jedoch häufig ein Anpassungsmechanismus, der im normalen Alltag seine Funktion der Abschirmung häufig "übertreibt". So sinnvoll es in der traumatischen Situation zu sein schien, nichts bewusst zu fühlen, so störend und einschränkend ist dies im Alltag. Dissoziation kann sich auf Teile der menschlichen Psyche beziehen (Verhalten, Körperempfindungen, Gefühle, Sinneswahrnehmung) oder auch auf ihre Gesamtheit.
Problematische Dissoziation führt zu Gedächtnislücken, dem Gefühl, die Zeit sei verschwunden und damit vor allem zu Scham. Man kann sich sicher vorstellen, wie unangenehm das Gefühl sein muss, nicht zu wissen, was in den letzten 45 Minuten passiert ist oder zugeben zu müssen, dass man während des Gespräches zwar körperlich anwesend war, aber keinerlei Erinnerung an den Inhalt des Gesagten hat.
Klient:innen dissoziieren, wenn das innere Erregungs- und Stresslevel über- oder unterschritten wird. Das passiert in den meisten Fällen (anders als bei Flashbacks) jedoch nicht adhock, wodurch es Zeit und Raum für geeignete Dissoziations-Stop-Maßnahmen gibt. Die Schwierigkeit liegt hier jedoch maßgeblich in der Wahrnehmung der eigenen Anspannung und dem eigenen Innenleben.
Menschen, die traumatisiert wurden, haben als eine Art Schutz diese Verbindung ins Innere im Zuge dissoziativer Prozesse gekappt. Der Bezug zu Körperempfindungen und den eigenen Emotionen ist abgeschnitten, das tatsächliche "sich-fühlen" ist eingeschränkt, aufgehoben oder traumatisch verfärbt.
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Ein Einblick in den Alltag von Menschen mit dissoziativen Symptomen, kann in dieser Reportage gewonnen werden (YouTube).
Formen der Dissoziation (Huber, 2012)
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Derealisation "Ich nehme die Welt um mich herum, anders und verzerrt wahr"
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Depersonalisation "Ich verliere den Bezug zu meinem Körper", "Es ist, als würde ich nicht mehr in diesem Körper sein"
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Anmnesien - "Ich erinnere mich nicht, was passiert ist"
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Somatisierung - z.B. dissoziative Krampfanfälle, psychogene Aphonie (Stimmlosigkeit)
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Dissoziative Identitätsstörung - Vorhandensein von mindestens zwei autarken Persönlichkeiten, die Hanldungskontrolle übernehmen können
Die Dissoziative Identitätsstörung (DIS)
Die Dissoziative Identitätsstörung (DIS) ist auf dem Kontinuum der Dissoziation deren schwerste Form und Folge früher, hochgradiger Traumatisierung.
Als Reaktion auf das traumatische Erleben spaltet sich die Erinnerung in allen ihren dazugehörigen Ebenen (Verhalten, Körperempfindungen, Gefühle, Sinneswahrnehmungen) ab und wird als eigene, autark agierender Persönlichkeitszustand etabliert (Huber, 2013). Dies dient als eine Art Schutzmechanismus, da das Erlebte, sollte es bewusst abrufbar und stets präsent in der Persönlichkeit einer einzigen Person integriert sein, zu destabilisierend wäre. Es muss also aufgeteilt werden, um überlebbar zu sein.
Es entstehen somit zwei oder mehr voneinander getrennt existierende Persönlichkeitszustände, die abwechselnd und voneinander, meist nicht wissend, die exekutive Kontrolle übernehmen können. Der Wechsel von einer Identität zur anderen geschieht meist durch trauma-assoziierte Reize (Trigger) von außen.
Menschen mit einer DIS haben in ihrem Innensystem also verschiedene Persönlichkeitszustände, die sich in relevanten Eigenschaften (auch körperlichen) unterscheiden und jeweils ein eigenes Erleben, Bewusstsein und eigene Wahrnehmung von sich und der Umwelt haben (Gysi, 2022).
Während im Laufe eines therapeutischen Prozesses, einzelne Personen miteinander kommunizieren lernen und auch voneinander Kenntnis besitzen, sind viele Menschen vor der Diagnosestellung in ihrem Alltag einfach mit breit ausgedehnten Gedächtnislücken und den Konsequenzen des Handelns verschiedener Außen-Personen konfrontiert.
Literatur
Gysi, J. (2022). Diagnostik von Traumafolgestörungen: Multiaxiales Trauma-Dissoziations-Modell nach ICD-11. Hogrefe AG.
Haines, S. (2019). Trauma ist ziemlich strange. 2. Auflage. Carl-Auer-Systeme Verlag.
Huber, M. (2012a). Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung. Junfermann Verlag GmbH.
Sack, M., Sachsse, U. & Schellong, J. (2013). Komplexe Traumafolgestörungen: Diagnostik und Behandlung von Folgen schwerer Gewalt und Vernachlässigung. Schattauer Verlag
